Was sind frühkindliche Reflexe? 
 Träumerli, Zappelphilipp, Hans-Guck in die Luft, Suppenkasper, Heulsuse, Angsthase oder Tollpatsch!

„Jetzt gebe dir mehr Mühe!“, „Immer wirst du so schnell wütend!“, „Konzentriere dich jetzt!“,
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“, „Pass doch besser auf!“

Das sind typische Äußerungen und gut gemeinte Ratschläge von Eltern, Großeltern oder LehrerInnen, die das scheinbar störende Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen im Alltag und in der Schule beschreiben. Schon Wilhelm Busch hat diese Verhaltensweisen in seinen Büchern beschrieben und es sind nicht nur neumodische Diagnosen von Ärzten oder der Pharmaindustrie. Doch was steckt hinter diesen Auffälligkeiten? Warum fällt es manchen Kindern so schwer, sich zu konzentrieren, ihre Wut zu bändigen oder Gefahren richtig einzuschätzen? Andere Kinder sind fast unsichtbar, haben große Ängste und können sich nur schwer auf etwas Neues einlassen.
Eine mögliche Ursache dafür könnte in einem Verbleib frühkindlicher Reflexe liegen.

Frühkindliche Reflexe – die Trainer in einer neuen Welt
Frühkindliche Reflexe sind lebensnotwendig und helfen dem Säugling, sich in der „neuen Welt“ außerhalb des Mutterleibes zurechtzufinden. Im ersten Lebensjahr entwickelt sich das Neugeborene von einem hilflosen Säugling zu einem kompetenten Kleinkind, welches viele Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernt. Verlässt ein Säugling nach der Geburt seine schützende Hülle, die ihn neun Monate vor den Umwelteinflüssen beschützt, mit Nahrung versorgt und Wärme und Schutz geboten hat, sichert eine Vielzahl von frühkindlichen Reflexen das Überleben in den ersten Tagen und Wochen (Goddard, 1998). Reflexe sind unwillkürliche, nicht beeinflussbare und immer gleich ablaufende Bewegungen, die von konkreten Reizen ausgelöst werden. Dabei hat jeder einzelne Reflex seine Aufgabe und seinen Zeitraum, in dem er seinen Höhepunkt erreicht und später durch willentlich gesteuerte Bewegungen abgelöst wird. Aber bereits im Mutterleib ermöglichen die Reflexe erste Bewegungen und spürbare Tritte, und Helfen dem Kind beim Geburtsvorgang sich eigenaktiv aus dem Geburtskanal „zu winden“.

Im Folgenden werden die Entstehung, die Funktion und der Ablauf der wichtigsten Reflexe beschrieben.

Der Moro-Reflex
  • Entstehung im Mutterleib in der 9. bis 12. Schwangerschaftswoche
  • Vollständig präsent während der Geburt
  • Integration bzw. Hemmung im 2. bis 4. Lebensmonat
  • Ablösung durch Erwachsenenschreckreaktion
Funktion
  • Auslösen des ersten Atemzuges nach der Geburt
  • Hilferuf
  • Reaktion auf Gefahrensituationen
Auslöser
  • Reize (Gefahren) aller Art (Gleichgewicht, Hören, Sehen, Schmecken, Fühlen)
Ablauf
  • Aktivierung: Steigerung der Wachheit und der Atemfrequenz, des Herzschlages und des Blutdruckes
  • Kurzes Einatmen mit Öffnen der Arme und Beine
  • Kurzes Innehalten
  • Ausatmen (Schrei) und Schließen der Arme und Beine

Eine weitere gute Zusammenfassung findet sich unter: https://starkekids.com/moro-reflex/. Außerdem finden Sie hier Tipps und Ideen, wie Sie Ihr Baby im Alltag entspannen und beruhigen können. 
Das hilft auch Kindern mit Restreaktionen.  

Der Palmar- und Plantar-Reflex
  • Entstehung im Mutterleib in der 11. Schwangerschaftswoche
  • Integration bzw. Hemmung im 2. bis 3. Lebensmonat (Palmar) bzw. 7. bis 9. Lebensmonat (Plantar)
  • Ablösung durch willkürliches Greifen, Loslassen und den Pinzettengriff bzw. durch Verwendung der Füße beim Kriechen und Stehen
Funktion
  • Festhalten „am Fell der Mutter“
  • Auseinandersetzung mit der Umwelt (BeGreifen der Welt)
  • Enge Verbindung mit dem Mund (Babkin-Reaktion)
Auslöser
  • Berührung / Druck auf Innenflächen der Hände und Füße
Ablauf
  • Einrollen der Finger und der Zehen

Der Saug-Such-Reflex
  • Entstehung im Mutterleib in der 24. bis 28. Schwangerschaftswoche, am stärksten ausgeprägt direkt nach der Geburt
  • Integration bzw. Hemmung im 3. bis 4. Lebensmonat
  • Ablösung durch konditionierte Reflexe (z. B. Anblick der Flasche)
  • Verbindung mit Händen durch Knetbewegungen beim Saugen (Babkin-Reaktion)
Funktion
  • Sicherstellung der Nahrungsaufnahme
Auslöser
  • Berührung der Mundregion
Ablauf
  • Hinwendung des Kopfes in Richtung der Berührung
  • Öffnen des Mundes mit Herausstrecken der Zunge

Der Tonische Labyrinth Reflex (TLR)
  • Entstehung im Mutterleib in der 12. Schwangerschaftswoche (vorwärts), bei Geburt (rückwärts)
  • Integration bzw. Hemmung im 4. Lebensmonat (vorwärts), bis 3. Lebensjahr (rückwärts)
  • Ablösung durch Kopfstellreaktionen und Brückenreflexe
Funktion
  • Hilft beim Geburtsvorgang und ermöglicht eine Streckung 
  • Erste Möglichkeit auf Schwerkraft zu reagieren
  • Ausbildung des Gleichgewichtssinnes und des Muskeltonus
  • Entwicklung der Augen- und Kopfstellreaktionen
Auslöser
  • Lageänderungen des Kopfes (vestibuläre Stimulation)
Ablauf
  • Vorwärts: Beugen der Arme und Beine, Muskelerschlaffung
  • Rückwärts: Strecken der Arme und Beine, Muskelstreckung

Der Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex (ATNR)
  • Entstehung im Mutterleib in der 18. Schwangerschaftswoche
  • Integration bzw. Hemmung im 4. bis 6. Lebensmonat
  • Ablösung durch Stellreaktionen und die Fähigkeit zu Kriechen
Funktion
  • Erste homolaterale Bewegungen im Mutterleib
  • Hindurchwinden durch den Geburtskanal
  • Offenhalten der Atemwege in Bauchlage
  • Früheste Auge-Hand-Koordination
  • Homolaterale Bewegungen werden geübt
Auslöser
  • Tonusänderung der Kopfwendemuskulatur
Ablauf
  • Strecken des Armes und des Beines in Blickrichtung
  • Beugen des Armes und des Beines der abgewandten Seite

Der Spinaler Galant Reflex
  • Entstehung im Mutterleib in der 20. Schwangerschaftswoche
  • Integration bzw. Hemmung im 3. bis 9. Lebensmonat
  • Ablösung durch Halte- und Stellreaktionen
Funktion
  • Hindurchwinden durch den Geburtskanal
  • Synchronisierung der oberen und unteren Körperhälfte einer Seite beim Kriechen und Krabbeln
Auslöser
  • Berührung des Lendenwirbelbereiches seitlich der Wirbelsäule
Ablauf
  • Rotation der Hüfte um ca. 45° zur berührten Seite

Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex (STNR)
  • Entstehung im 6. bis 9. Lebensmonat
  • Integration bzw. Hemmung im 9. bis 11. Lebensmonat
  • Ablösung durch die Fähigkeit zu Krabbeln
Funktion
  • Einnehmen des Vierfüßlerstandes
  • Trainiert den Wechsel zwischen Nah- und Fernsicht (Akkommodation)
  • Massenbewegungen werden aufgebrochen
Auslöser
  • Tonusänderung der Nackenmuskulatur bzw. Heben und Senken des Kopfes
Ablauf
  • Beugung der Arme mit Strecken der Beine
  • Beugung der Beine mit Strecken der Arme

(Zusammengefasst aus Goddard, S. (1998): Greifen und BeGreifen; Ruben, L. & Wittich, C. (2017): Therapie Myofunktioneller Störungen (MyoMot): Ein ganzheitliches Konzept mit 6 Bausteinen; Beigel, D. (2011): Flügel und Wurzeln: Persistierende Restreaktionen frühkindlicher Reflexe und ihre Auswirkungen auf Lernen und Verhalten;